• Im wärmenden Licht der Toten

  • , 1 Im wärmenden Licht der Toten
    Gewisse Feiertage sind mir ein Greuel, weiß ich doch nicht so richtig, was ich an solchen Tagen mit mir anfangen soll. Meist sind es christliche Feiertage. Feiertage, an denen mir die tiefere Bedeutung nicht so recht einleuchten will. Mal abgesehen von Ostern oder Weihnachten. Das sind Tage, die mich berühren, hängen doch sehr viele schöne Kindheitserinnerungen damit zusammen.

    Heute ist Allerheiligen.
    Der Tag, an dem Menschen in aller Welt, Kerzen auf den Gräbern ihrer lieben Verstorbenen aufstellen. Sie zünden ein Licht an, im Gedenken an die Menschen, die sie geliebt haben. Menschen, die vielleicht schon sehr lange tot sind, aber auch Menschen die erst kürzlich gestorben sind. Väter, Mütter, Ehefrauen, Ehemänner, Großeltern. Im schlimmsten Falle Kinder.

    Es ist Herbstzeit. Zeit des Abschieds. Vom Sommer und warmen Tagen. Man kann zusehen, wie alles um uns herum verwelkt und vergeht. Braungelb verfärbte Blätter liegen überall verstreut herum und wehen uns um die Köpfe. Es wird kalt und feucht draußen. Und es wird dunkel. Schon am späten Nachmittag beginnt die Nacht und man hat viel Zeit zum Nachdenken, schaltet die Glotze ein, hört Radio oder beschäftigt sich mit allerlei Sinnigem und Unsinnigem um den langen Abend zu verkürzen.

    Ich entschloss mich heute dazu, noch etwas spazieren zu gehen, lief durch meinen Heimatort, vorbei an der belebten Hauptstraße, an beleuchteten Schaufenstern. Obwohl alle Geschäfte geschlossen sind, erstaunte mich der lebhafte Verkehr. Auf dem Nachhauseweg entschließe ich mich dazu, doch noch einen Umweg zu machen. Hoch zur Kirche. Man muss viele Treppen steigen bis nach ganz oben, denn die Kirche ist auf einem der drei Hügel erbaut, die meinen Heimatort kennzeichnen und auch im Wappen der Gemeinde wiederzufinden sind.

    Oben angekommen genieße ich die Aussicht, man kann von dort den Blick über den Ort schweifen lassen, etwas den Gedanken nachhängen. Nicht allzu fern hört man ein stetiges Rauschen. Die Autobahn ist nicht weit entfernt. Eine permanente Geräuschkulisse, aber es stört nicht weiter. Nach einer kurzen Verweilpause schlendere ich noch etwas um die Kirche herum, sehe Silhouetten, etwas weiter weg von mir, am Eingang zum Friedhof. Die Schatten verschwinden langsam in der Dunkelheit, doch ich erblicke ein Licht. Zuerst nur eines hinter den Büschen. Je näher ich mich dem Friedhof nähere, umso mehr Lichter erscheinen in meinem Blickfeld. Und ganz plötzlich und unerwartet stehe ich inmitten eines Lichtermeers. Ich gehe still weiter, vorbei an langen Grabreihen, man kann die Grabsteine nur erahnen, ich sehe nur noch die roten Lichter. Es sind Hunderte, vielleicht auch Tausende.

    Und es ist still. Eine Stille, derer ich schon lange nicht mehr gewahr wurde. Eine wohlige, warme Stille, die mich umhüllt. Eine erleuchtete Stille. Gefühle und Gedanken verselbständigen sich, merke fast nicht mehr meine Schritte, sauge alles um mich herum auf wie ein vertrockneter Schwamm. Es ist wundervoll, kaum zu beschreiben.

    Wie von unsichtbarer Hand gezogen, gehe ich weiter. Bis ich vor einem Grab stehe. Es ist das Grab meiner Großeltern. Das Grab der Menschen, die auch ich geliebt habe und es noch immer tue.
    Ein rotes Grablicht steht einsam zwischen liebevoll gepflanzten Vergißmeinnicht. Bin mir sicher meine Eltern waren schon hier um dieses Licht anzuzünden.

    Ich sinke in die Knie, bis auf den Rand des Grabes. Berühre den Marmor mit meinen Fingerspitzen.
    Und fange an zu weinen.

    Ich weiß nicht wie lange ich dort niederkniete, doch ich weiß ich habe gebetet. Ich war in diesem stillen Moment ganz nah an den Menschen die ich liebe und geliebt habe. Bei den Toten. Bei den Lebenden.

    Im nächsten Jahr werde auch ich ein Licht aufstellen. Vermutlich wird es nicht genau so sein wie bei diesem ersten Mal, als ich fühlte.
    Doch ich habe verstanden.
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